Das Ärgernis mit den bösen, unchristlichen Gefühlen
Der Mann mit der gehässigen Nachbarin
Ich besuchte eine neue Gemeinde. Dort war es möglich, dass die Mitglieder „Zeugnis“ geben konnten von dem, was sie in ihrem Glaubensleben erlebt hatten.
Ein Mann mittleren Alters kam nach vorne. Er berichtete von einer zugezogenen (alleinstehenden) Nachbarin, die ihn und seine Kinder mit ihren kleinlichen Beschwerden regelrecht tyrannisierte. Wenn die Kinder vor ihrem Haus mit Bobbycars unterwegs waren, fand sie das zu laut und sie schimpfte wild um sich. Das Kindergeschrei war ihr ein Dorn im Auge und auch kleine handwerkliche Tätigkeiten, die nun mal eine gewisse Lautstärke mit sich bringen, konnte sie nicht tolerieren.
Ihre Gehässigkeiten setzten sich Monate nach ihrem Einzug fort, bis sie eines Tages den Sohn des Mannes „ zur Schnecke“ machte, weil der mal wieder ihre Ruhe störte. Da platze dem Vater der Kragen. Er machte der Frau deutlich, dass sie in diesem Ton nicht mit den Kindern umspringen könnte, dass ihr Verhalten respektlos und grenzüberschreitend war.
Von diesem Tag an ließ seine Nachbarin nie wieder etwas von sich hören. Soweit, so gut. Doch:
Der Vater bat nun im Gottesdienst Gott und die Anwesenden um Vergebung. Er wäre mit seiner Nachbarin sehr unchristlich und lieblos umgegangen. Vielleicht hätte er sich auch im Ton vergriffen, hätte aus dem Affekt gehandelt. Wut sei jedenfalls nicht von Gott, sondern eine schreckliche Sünde, die ihm leidtun würde. Er hoffe, Gott würde ihn läutern und verändern.
Meine Erfahrungen
Ich konnte mich sehr mit diesem Mann identifizieren. Seit Jahren litt ich unter meiner Nachbarin, welche unsere Schritte auf der Treppe mokierte, das Knipsen unserer Lichtschalter hörte, das Duschen um 6:00 Uhr morgens als Zumutung beanstandete und genaue Zeiten vorgab, wenn wir die Rollos und die Waschmaschine betätigen dürften, um nur einige Beispiele zu nennen… Und wenn natürlich unsere drei „abnormalen“ Kinder nicht gewesen wären, die ein paar kleine Steine aus ihrem Vorgarten entführten und eigentlich den ganzen Tag wild trampelten und schrien (wie sie das beschrieb)… Ja, dann wäre ihr Leben vielleicht glücklich gewesen?
Immer wieder bin ich auf ihre Forderungen eingegangen, hielt mich an die von ihr festgesetzten Zeiten, versuchte die Kinder leise zu halten und holte sie am Abend frühzeitig ins Haus, verzichtete sogar oft auf das Abendessen auf der Terrasse. Es kostete mich, zu meinem sonst schon anstrengenden Alltag, zusätzlich Energie. Ich versuchte sie in Gesprächen zu besänftigen, sie zum Kaffee einzuladen, immer das biblische Mott im Hinterkopf: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute.“ Vgl. Röm 12, 17-21.
Mittlerweile sind wir weggezogen, da unsere Lebensqualität unter anderem dauerhaft unter dieser Situation gelitten hätte. Im Nachhinein bewerte ich die Situation anders:
Es wäre an der Zeit gewesen, freundliche, aber klare Grenzen zu setzen. Durch mein vermeintlich christliches Entgegenkommen gab ich ihr Macht in die intimsten Bereiche unserer Familie einzugreifen. Ich dachte, als Christ müsste man immer lieb und nett sein, egal wie abschätzig und entwürdigend man behandelt wird. Ich schluckte, „um des Friedens Willen“ und um „Gottes Willen“.
Die Würde bewahren und Gottes tatsächlichen Willen erkennen
Doch wie der Mann aus der Gemeinde hätte ich meiner lieben Nachbarin sagen müssen:
„Entschuldigung, aber unsere Rollos, Treppenstufen und Kinder gehen sie nichts an. Meine Kinder dürfen Kinder sein, ohne hinter dem Fernseher ruhig gestellt zu werden!“
Hätte Gott nicht viel mehr gewollt, dass ich meine Würde bewahre, anstatt klein beizugeben? Kann es Sünde sein, wie der Mann aus der Gemeinde behauptet hatte, wenn er seine Grenzen klar absteckte (natürlich ohne sich auf das gleiche herabwürdigende Niveau seiner Nachbarin zu begeben)? Ist Wut nicht auch ein positiver Anzeiger dafür, dass etwas geklärt und zurecht gerückt werden muss?
Gefühle – eine christliche Bedrohung?!
Neulich sprach ich mit einer gläubigen Person, die mir erzählte, sie hätte seit ihrem Christsein gelernt, alle negativen Gefühle wie Wut, Aggression, Ärger, Eifersucht, Trauer usw. hinunter zu schlucken. Denn schließlich wäre das Sünde und Jesus dafür gestorben. Gemeinden lehren immer wieder: „Traue ja nicht deinen Gefühlen, sie können dich trügen und verführen.“ Dies führte bei dem Christen letztendlich dazu, dass er verschiedene Süchte entwickelte, um jegliche negativen Gefühle möglichst schnell zu verdrängen. Er wurde zunehmend beziehungsunfähig, da er niemanden wirklich an sich heranließ. Nach außen war er stets gut drauf, ein begeisterter charismatischer Christ, doch innerlich entfremdet von sich selbst, leer wie eine bloße Hülle.
Was für eine verdrehte christliche Lehre? Was für einen Schaden diese Theologie doch in den Herzen und Seelen der Menschen anrichten kann! Gehen wir doch zurück zu den biblischen Grundlagen!
Der emotionale Gott – Rückkehr zu seiner Schöpferidee
War es nicht Gott selbst, der den Menschen als sein Ebenbild, als emotionales Wesen mit einer Bandbreite an positiven und negativen Gefühlen erschaffen hat!? Warum programmierte er den Menschen nicht einfach als Roboter, immer neutral ausgeglichen, immer funktionierend? Wird Gott selbst, nicht als ein eifersüchtiger, eifernder, werbender Gott beschrieben? Wenn ich mir anschaue, welch ein Zorn ihn oft überfiel, wenn er sein abgefallenes Volk Israel betrachtete, dann war das alles andere als emotionslos (z.B. Ex. 20, 5; Deut. 32, 16 + 21; Hos 11, 8). War es nicht Jesus selbst, der wutentbrannt, die Händler aus dem Tempel trieb (Joh 2, 13-25), der beim Tod seines Freundes Lazarus von Zorn und Schmerz erschüttert wurde (vgl. Joh 11, 33-38)?!
Ich sage hier nicht, dass wir v.a. die negativen Gefühle, unkontrolliert an unsere Mitmenschen auslassen, unsere Kinder schlagen oder verbal erniedrigen sollen, wenn wir uns über sie ärgern. Ich sage nicht, dass wir den emotionalen Kochtopf mit Herabwürdigungen und Beleidigungen explodieren lassen und damit andere verletzen.
Ich sage nicht, dass wir ein hilflos ausgeliefertes Opfer unserer Gefühle sind (wie der Psychologe Freud es über das ungezähmte ES beschreibt…), wie ein kleines Boot, das von den aufgewühlten Wellen hinweg gespült wird.
Aber ich sage: Wir sind der Kapitän auf unserem Schiff! Wir dürfen einsteigen und das Steuer in die Hand nehmen. Aber die Kraft der Wellen will uns nach vorne treiben, genutzt werden und uns unsrem Ziel näher bringen. Gefühle wollen gefühlt werden! Gott selbst hat uns so erdacht. Jedes Gefühl beinhaltet eine Botschaft, die wahrgenommen und entschlüsselt werden will. Ja, sie sollen durch den Verstand geprüft werden! Wir sollen und dürfen überlegen, wie wir mit unseren Gefühlen umgehen. Aber sie sind Gottes Idee!
Nach dem Gottesdienst ging ich auf den Mann in der Gemeinde zu und sagte ihm: „Ganz ehrlich! Ich fand gut, dass Sie Ihrer Nachbarin klar die Meinung gesagt haben. Auch ich hätte das bei meiner Nachbarin viel früher tun sollen. Ich kann nicht sehen, dass dies Sünde ist, sondern erkenne diese Grenzsetzung als Auftrag Gottes, um Ungerechtigkeit entgegen zu wirken.“ Er war ziemich sprachlos…
Lasst uns zurückkehren zu Gottes ganzheitlicher Idee des Menschen mit Kopf, Herz und Hand! (vgl. Mk 12, 30), auch zum jesuainisch-jüdischen Menschenbild, das die Trennung von Kopf und Gefühl gar nicht kennt… Lasst die Gerechtigkeit siegen über christlich- antichristliche Dogmen! Lasst uns wieder echt werden! Lasst uns Gottes Ursprungsidee wieder auf den Grund gehen!
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