Wer mir nachfolgen will, verlasse Frau und Kinder?
Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und die Mutter und die Frau und die Kinder und die Brüder und die Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein (Lk 14, 26).
Es ist niemand, der ein Haus verlässt oder Eltern oder Brüder oder Frau oder Kinder um des Reiches Gottes willen, der es nicht vielfältig wieder empfange in dieser Zeit, und in der zukünftigen Welt das ewige Leben. (Lk 18, 29-30)
Wie viel Leid brachte diese Bibelstelle wohl vielen christlichen Familien, Frauen und Kindern über die letzten Jahrhunderte, aber auch ganz aktuell!? Ich schreibe diesen Artikel, da der Missbrauch dieser Bibelstellen, mich tief erschüttert. Ich möchte gerade rücken, zurecht rücken und den Blick für Gottes wahres Wesen schärfen. Denn:
Gläubige Männer sahen in genau diesen Bibelstellen den Aufruf, ihre Familien hinten anzustellen, zu vernachlässigen, sich selbst zu überlassen. Sie widmeten sich völlig dem „Reich Gottes“ und gingen in ihrem (Schein-) „geistlichen Dienst“ auf. Dabei fühlten sie sich besonders heilig und in ihrer Gott gegebenen Berufung gehorsam.
Vergangene und aktuelle Beispiele
William Carey, der erste baptistische Missionar Ostindiens praktizierte diesen Lebensstil. Innerlich von Jesus begeistert, verschrieb er sich der Lebensaufgabe, der Bevölkerung Bengalens das Evangelium zu verkünden. Er übersetzte die Bibel in viele indische Sprachen und gründete eine eigene, weltumspannende Missionsgesellschaf, sowie mehrere Schulen. Seine (erste) Frau und die Kinder hatten dabei kein Mitspracherecht. Sie mussten von ihrem Heimatland England nach Indien übersiedeln, denn es handelte sich um „Gottes heilige Mission“. Dabei ignorierte er die Gefühle und Bedenken seiner Frau. Sie konnte sich mit den schwierigen Lebensbedingungen Indiens nicht arrangieren. William ließ sie die meiste Zeit alleine mit den Kindern zurück, auch als eines ihrer Kinder an einer tropischen Krankheit starb. Dieses Schicksal gab ihr den Rest und stürzte sie in eine tiefe psychische Krankheit, von der sie sich nie mehr erholte. Später heiratete William Carey erneut. Liest man heute von William Carey, dann werden seine Taten als erfolgreicher Indienmissionar gerühmt. Seine Rolle als Ehemann und Vater, die er vielleicht auch von Gott übertragen bekam (Oder warum hat er sonst geheiratet?), kehrt man dabei unauffällig unter den Tisch.
Gestern hörte ich eine Predigt von R. Hirtler. Auch er erzählte, dass Gott ihn eines Tages nach Brasilien gerufen hätte, um dort zu predigen. Sein Sohn steckte zu diesem Zeitpunkt gerade in tiefen Drogenproblemen. Hirtler ahnte, dass er sich jeder Zeit durch eine Überdosis das Leben nehmen könnte. Er nahm wahr, dass er keinen Zugang mehr zu seinem Sohn hatte. Dennoch hätte Gott ihm gesagt, er sollte in den Flieger nach Brasilien steigen.
Später erzählt er, dass Gott seinen Sohn auf wundersame Weise (ohne das Zutun des Vaters) von der Drogenabhängigkeit befreit hatte. Er sah dies als Bestätigung, dass er damals richtig gehandelt hätte und seinen Sohn zurück lassen musste.
Wenn ich solche Geschichten höre, dreht sich in mir alles um. Zum einen identifiziere ich mich sehr stark mit dem Schicksal der Frauen. Als ehemalige Pastorenfrau habe ich viele meiner Bedürfnisse zurück gesteckt, um meinen Mann im Dienst freizusetzen. Ich bin für ihn in eine andere Stadt (weg von meiner Familie und Freunden) gezogen. Mit vier Schwangerschaften (darunter einen Abgang und zwei Problemschwangerschaften), Kindern und Haushalt war ich die meiste Zeit auf mich alleine gestellt und überfordert, auch an den Wochenenden und Abenden. Meinen eigenen Beruf und meine Bedürfnisse gab ich vollkommen auf. Mein Mann war in der Gemeinde sehr angesehen und erfolgreich, absolvierte „nebenbei“ ein theologisches Fernstudium. Immer wieder kamen neue „Projekte“ hinzu, die mit Gottes Idee und Willen begründet wurden. Letztendlich litt meine psychische Gesundheit und unsere Ehe darunter, bis es schließlich einfach nicht mehr ging. Dies wurde auch meinem Mann bewusst und wir versuchten einiges zu ändern. Ich kenne viele Geschichten von Frauen, denen es ähnlich erging.
Kann dies Gottes Wille und Wesen sein???? Läuft hier unter christlichen Deckmantel nicht etwas fundamental verkehrt? Warum heiraten Männer, wenn sie sich dann in ihrem Beruf verlieren, Frauen und Kinder sich selbst überlassen? Meiner Meinung nach widerspricht dies fundamental der Botschaft und dem Wesen Gottes.
Hier die biblischen und argumentativen Grundlagen:
- Gott selbst stellt sich als guter und fürsorglicher Vater vor, der sich um seine Kinder sorgt. Wie viel mehr erwartet er dies dann auch von leiblichen Vätern, die ihm nachfolgen wollen!?
- Er beschreibt sich als leidenschaftlichen Ehemann, der für seine „Frau“ kämpft und sie nicht verlässt (vgl. Hosea 2, 19; Jes. 62,4).
- Die Witwen und Waisen waren Gott zu keiner Zeit egal, im Gegenteil: Sie bewegten sein Herz auf besondere Weise. Er ruft zu deren Fürsorge und Unterstützung auf z.B. in: 5. Mose 14, 28-29.
- Dies wird als Voraussetzung für einen geistlichen Dienst in der Gemeinde genannt: „Diakone sollen ihrer Frau und ihren Kindern GUT vorstehen.“ 1. Tim. 3, 12.
- Das wichtigste Gebot für Jesus beschreibt er in Mk 12, 31: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“ Wer könnte dir näher stehen, als dein eigener Partner und deine Kinder? Zu oft werden die Prioritäten verschoben. Die Gemeindemitglieder werden zum „Nächsten“, zur geistlichen Familie, mit denen man die Tage, besonders die Festtage verbringt, Frau und Kinder entfremden sich.
- Es bedeutet nicht, dass man als Familie weniger bewegen kann, als ein einzelner Mann. Im Gegenteil: Auch die Frau und die Kinder haben Potentiale, wenn man diese als Familie gemeinsam nutzt, sich ergänzt und zusammenarbeitet multiplizieren sich Fähigkeiten, Kräfte und Talente.
- Es widerspricht Gottes ureigenem Wesen, wenn Frauen und Kinder ihr Potential unterdrücken müssen, um die Ziele einer Einzelperson der Familie zu verwirklichen.
- Ganz stark hinterfrage ich auch die wahre Motivation von Workaholic-Predigern: Geht es ihnen wirklich um Gott, um seinen Auftrag und seine Mission? Oder hungern sie letztendlich doch um die Anerkennung der Menschen, füllen ihr eigenes Loch der Minderwertigkeit?
- In den christlichen Köpfen sind Missionare die einzigen völlig gottergebenen Superhelden des Glaubens. Der Rest von uns neige laut traditionellen christlichen Denken zur Bequemlichkeit und Materialismus und möchte das Vertrauen nicht loslassen. Die wirklich Frommen verkaufen ihren Besitz und leben irgendwo, wo Gott sie hinschickt. Das nächsthöhere Level von Superhelden widmet sich dem hauptamtlichen Dienst für Gott.
- Doch sind nicht die wirklich gottergebensten Menschen: Ärzte, die denjenigen helfen, die ihr ganzes Leben mit Depressionen zu kämpfen haben; eine alleinerziehende Hausfrau und Mutter, die beschloss ihre eigenen Bedürfnisse für die Versorgung von neuem Leben total zurückzustellen und bis ans Ende ihrer Kräfte sich aus dem Bett quält; Pflegekräfte und Angehörige, die alte Menschen begleiten; Kinder die blind Gott vertrauen und in ihren eigenen Worten Gott für den Tag danken, Putzfrauen, die hingegeben den Job erledigen, den niemand machen will usw. Große Taten werden nicht von scheinbar großen Menschen auf der Bühne getan, sondern Gott wählte stets die Unscheinbaren und Versteckten, um durch ihre Schwachheit Großes zu wirken. „Oft applaudieren wir Menschen, die außergewöhnliche Dienste für Gott tun, und ignorieren dabei den Dienst für Gott im Alltag, den niemand sieht.“ (Jennie Allen)
- Hiermit haben wir viel mehr Bibelstellen und Argumente, die für eine sorgende, liebevolle Vater- und Partnerschaftsrolle sprechen, als für eine vernachlässigende!
Wie ist nun die Bibelstelle aus Lk 14, 26 richtig zu verstehen?
Jesus richtet seinen Auftrag aus Lk 14, 26 an seine Jünger. Er fordert sie auf, ihn zu begleiten und mit ihm durch das Land zu reisen, um Gottes Botschaft zu verkünden. Dabei handelte es sich um verheiratete Familienväter. Besser wäre es wohl gewesen, diese Männer wären gar nicht verheiratet und damit ungebunden. Diese Empfehlung gibt auch Paulus an Männer, die sich uneingeschränkt auf den Dienst Jesu konzentrieren wollen (vgl. 1. Kor. 7, 25-38). „Wenn du verheiratet bist, dann suchst du aber auch deiner Frau zu gefallen“, schreibt Paulus und beschreibt dies als gut und richtig.
Es gibt auch Situationen, bei denen eine gesunde Distanz zum Partnern und den Kindern notwendig ist. Ist die Beziehung z.B. zu symbiotisch geworden, kontrollieren sie das eigene Leben, ersticken eigene Bedürfnisse im Keim, stellen den einzigen Lebensinhalt/-sinn dar, oder verbieten den Glauben an Jesus generell, dann ist es sicherlich notwendig, sich abzugrenzen. Es könnte durchaus sein, dass dies auch bei den Jüngern Jesu der Fall war. Ein Mann der damaligen patriarchalen Zeit definierte sich nämlich oft ausschließlich über seine Rolle als Familienoberhaupt. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint Lk 14, 26 und Lk 18, 29-30 als sinnvoll. Dennoch bleibt eine Spannung, die innerhalb der Bibel nicht aufgehoben werden kann. Sie treibt uns zu der Frage nach dem Wesen Gottes als Vater, Liebhaber, Schöpfer von Mann und Frau und Kämpfer der Gerechtigkeit.
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