Wer sein Kind liebt, der züchtigt es???
Ich erinnere mich nicht mehr daran, was ich ausgefressen hatte, nur an meine panische Angst vor dem, was gleich kommen würde. Vielleicht war ich sieben oder acht Jahre alt. Ich sollte mir aus den Kochlöffeln meiner Mutter, einen heraussuchen, mit dem sie mich auf den nackten Po verprügeln würde. In mir war nur Panik und der Impuls zu fliehen, so dass ich nicht denken, geschweige denn mich für einen Kochlöffel entscheiden konnte. Meine weiteren Erinnerungen sind (wahrscheinlich zum Selbstschutz) vernebelt. Doch recht bildlich sehe ich noch die hellblaue Kanne, in der das Sammelsurium von Holz- und Plastikkochlöffeln aufbewahrt wurde.
Das Schlimme waren nicht die Schläge an sich, nicht die Tatsache, dass eine Mutter, die mich doch lieben und beschützen sollte, körperlich züchtigte. Das Schlimmste war ihre Überzeugung Gott damit gehorsam zu sein, ja das Beste an mir zu vollziehen und eine göttliche Form der Erziehung anzuwenden. Dazu zitierte sie die Bibel: „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es.“ Spr. 13, 24. Oder Jes. 27, 9: „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald.“ (Vgl. Spr. 3, 12; Spr. 19, 18; Spr. 22, 15 Spr. 23, 13-14 Spr. 29, 15 Hebr. 12, 6). Was für ein grausames Gottesbild!
Als meine Eltern und Großeltern Kinder waren, gehörte körperliche Züchtigung zur gängigen Erziehungsform. Heute wissen wir aus Statistiken, um die langfristigen negativen Auswirkungen von Gewalt auf Menschenleben: Gewalt erzeugt Gewalt. Menschen leiden ihr Leben lang unter psychischen und körperlichen Folgen. Sie bringt keinerlei Herzensbesserung. Die Machtausübung von Stärkeren zerstört das Selbstbewusstsein des Kindes, welches in diesem Moment schutzlos ausgeliefert ist. Doch: „Man kann in Kinder nichts hineinprügeln, aber man kann vieles aus ihnen herausstreicheln (Astrid Lindgren).“
Daher haben wir die körperlichen Strafen zurecht aus der Pädagogik verbannt. Das BGB § 1631 verbietet heutzutage körperliche Gewalt an Kindern. Dennoch, das was ich als Kind erlebt hatte, bleibt leider auch im 21. Jh. kein Einzelfall und kein Relikt der Vergangenheit.
Immer noch laufen diese Szenen in hunderten von gläubigen, „bibeltreuen“, fundamentalistischen, charismatischen, freikirchlichen Christen-Familien ab. Eine Studie von Künkler/Faix („Zwischen Furcht und Freiheit. Das Dilemma der christlichen Erziehung“ von Tobias Künkler und Tobias Faix, 2017) bestätigt den Zusammenhang extremer wortgetreuer Religiosität und Einsatz von Gewalt in der Erziehung. Aber auch jedes 3. Kinder* aus nichtgläubigen Familien erfährt in seinem Leben körperliche Gewalt. Das muss aufrütteln!
Bei dem Gedanken daran steigt große Wut in mir auf, wie sehr man doch die Bibel missbrauchen kann. Im Namen Gottes, wurden Kreuzzüge geführt und Frauen als Hexen verbrannt, Menschen (z.B. Schwule, Lesben, Geschiedene, Menschen die vor der Ehe Geschlechtsverkehr hatten usw.) aufs übelste gedemütigt und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, Kinder körperlich und psychisch misshandelt und vieles mehr. Ich bezeichne mich als gläubige Christin, doch wundert es mich nicht, wenn Menschen sich von dieser Art „Christentum“ abkehren.
„Weh denen, die Böses gut und Gutes böse heißen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen!“ Jes 5, 20.
Wie sehr kann man die Bibel doch durch reine Wortgläubigkeit missinterpretieren. Wie sehr würde eine vernünftige Exegese, welche den Gesamtkontext der Bibel miteinbezieht, Leid verhindern!
Hier mein bescheidener Versuch, mehr als den Wortlaut zu sehen:
- Der zeitgeschichtliche Kontext der Antike: Diese Bibelstelle wurde in der antiken Zeit geschrieben, in welcher Körperstrafen gegenüber allen Menschen ( also auch freien Männern, Frauen, Sklaven und nicht nur Kindern) als gängige Strafe für Regelverstöße eingesetzt wurden (vgl. 5. Mo 25). Auch zur Zeit Jesu galten körperliche Schläge und selbst die Todesstrafe, als unumstrittene Praxis. Paulus wurde ebenfalls mit dem Stock verprügelt (vgl. 2. Kor 11, 23). Daher war die Prügelstrafe auch in der Kindererziehung selbstverständlich. Nur Verstoßene und Waisen wurden nicht geschlagen, da sie keine Eltern hatten. Sie galten als ungeliebt. Ein Kind jedoch, um das man sich kümmerte, erhielt automatisch auch Schläge. Eine sinnentsprechende Übersetzung des Bibelverses würde also lauten: „Wer sein Kind liebt, überlässt es nicht sich selbst, sondern erzieht es.“
- Die Textgattung der Sprüche: Zwei der genannten Bibelstellen stehen in den Sprüchen Salomons. Um sie richtig zu deuten ist es wichtig, sich diese Textgattung der Weisheitsliteratur genauer anzusehen. In den Sprüchen wird ein weiser Mensch als solcher beschrieben, der sich nicht selbst als klug bezeichnet, sondern fragend und suchend bleibt. Spr 27, 11: „Siehst du einen Mann, der sich selbst für weise hält: da ist für einen Toren mehr Hoffnung vorhanden als für ihn.“ Der Weise lernt aus der Erfahrung statt sich als Unmündiger an unhinterfragbares Regelwerk zu klammern. Die Weisheitsliteratur gibt keine von oben diktierten Sätze aus Gottes Mund weiter, sondern lädt dazu ein, die Welt mit offenen Herzen zu betrachten. „Nicht der ist weise, der an Wissen glaubt, sondern derjenige, der mit hörenden Herz lebt und sein Leben lang lernen will, wer weiß dass er vieles nichts weiß“ (Zitat eines unbekannten Autor). Wenn das Buch der Sprüche dazu auffordert, sich durch Erfahrung weiterzuentwickeln, dann dürfen wir die Erkenntnisse der heutigen Pädagogik ernst nehmen. Auch als Christen müssen wir nicht länger gegen die Herzen der Kinder und Eltern handeln, nur um dem Buchstaben treu zu bleiben. Wir dürfen Gottes Herz hinter dem Buchstaben entdecken, in die Freiheit und Liebe eintreten. Nur sie macht Kinder zu guten und liebensfähigen Menschen.
- „paideuo“, das griech. Wort das Luther mit „züchtigen“ übersetzt, bedeutet viel mehr (vgl. 2. Tim 3,16) „nicht vernachlässigen“ oder „erziehen, belehren, unterrichten, bilden, unterweisen“. Davon leitet sich das spätere Wort „Pädagogik“ ab. Es hat nichts mit körperlicher Gewalt zu tun, sondern spricht sich für eine Führung in Liebe und Klarheit aus, also gegen den Laissez fair-Stil.
- „schewat“ aus dem Hebräischen, übersetzt Luther mit „Rute“ oder „Stock,“ meint aber den Hirtenstab (vlg. Ps. 23, 4) oder das Zepter, als Symbol der klaren Leitung und Autorität. Autorität wird durch Charakter, Worte klarer Grenzen und Regeln gesetzt, nicht aber mit körperlicher Gewalt. Diese zeugt nur von Schwäche, Hilflosigkeit und Überforderung.
Fazit: Prügelstrafen können und dürfen nicht mit Gottes Wort gerechtfertigt werden! Sie verhindern ein pädagogisches Ziel aufgrund von Einsicht und schädigen Kinder für den Rest ihres Lebens. Ich wurde als Kind nur einige Male, aber zum Glück nicht regelmäßig geschlagen. Meine Eltern verurteile ich dabei nicht (auch wenn ich es nicht gutheiße!), da sie es nicht besser wussten. Ich kann ihnen mit Respekt und einem vergebenden Herzen begegnen. Gott hat meine Wunden geheilt, damit ich heute davon reden und schreiben kann, damit ich den Kindern eine Stimme gebe, deren Schreie niemand hört. Ihm sei alle Ehre!
*vgl. Studie zur Traumastiftung: https://www.fr.de/panorama/jedes-dritte-kind-wird-misshandelt-11060740.html. 16.01.2021
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