Der Zehnte – Bibeltreue oder Manipulation?
C.a. 5 Jahre lang besuchte ich eine christliche Freikirche, in welcher es zur unhinterfragbaren, selbstverständlichen Pflicht gehörte, den zehnten Teil seines Einkommens einzuzahlen. Begründet wurde dies mit der Aussage: „Von der Gemeinde wirst du ja auch geistlich versorgt“. Leider habe ich mich nach einem Gottesdienstbesuch meist geistlich unterversorgt gefühlt. In meinem Glauben gewachsen bin ich viel mehr durch gute, geistliche Bücher, den Austausch mit Freunden und qualitativen Onlinepredigten. Wie auch immer, den Zehnten zu zahlen gehöre zu einer gesunden christlichen Finanzführung dazu. Ich habe mich dabei stets unwohl, unfrei und unter Druck gesetzt gefühlt. Dabei ging es mir nicht um meinen egoistischen Wunsch, meine Finanzen für mich zu behalten. Vielmehr war es seit meiner Jugend mein Bedürfnis, Straßenkinder finanziell zu unterstützen. Das tue ich bis auf den heutigen Tag, nur habe ich das in der Gemeinde nicht hinausposaunt. Es wäre dort sowieso keine Alternative zum Zehnten zahlen gewesen. Für mich war es dies schon. Und so lebte ich mit einem inneren Konflikt und schlechten Gewissen, geschürt durch die Gemeinde. Man berief sich auf das „Wort Gottes“, auf das „biblische Prinzip“, welches angeblich zum Geben des Zehnten auffordert: z.B. in Lev. 27, 30; Num 18,26; Deut 14, 24; 2. Cron 31, 5; Mal 3, 6-12.
Gehorsam gegenüber Gott äußerte sich nach gemeindlicher Lehre also im Geben des Zehnten. Ungehorsam oder sündig ist derjenige, der das Geben des Zehnten verweigert. Er beraubt sozusagen Gott selbst.
Aber ist das wirklich so? Ich fing an, dieses am reinen Buchstaben klebende Gesetz, ein wenig zu hinterfragen.
- Zum einen finden wir die einschlägigen Bibelstellen (s.h. oben) nur im AT, d.h. das Gesetz des Zehnten wurde, wie so viele andere AT-Gesetze nur an die Juden gerichtet, die vor der Zeit Jesu lebten. Wir als Christen essen heute Schweinefleisch, obwohl es in Lev. 11, 7 als unrein verboten wird. Wir haben die Todesstrafe abgeschafft, obwohl sie in Lev. 24, 14-16 für Mörder als gerechte Strafe vorgeschrieben wird. Wir beschneiden unsere männlichen Nachkommen nicht mehr, obwohl dies Gottes Gebot in Gen. 17, 10 vorsieht usw. Wir Christen befolgen heutzutage keine jüdischen Opfergesetze (Lev. 1-7) mehr. Sie wurden durch das Opfer Jesu erfüllt, abgelöst und verloren ihre Gültigkeit (vgl. Hebr. 10). Warum dann meinen wir immer noch, Gott durch unsere (Geld-) Opfer beeindrucken zu müssen? Der Zehnte, der das alttestamentliche Sozial- und Tempelgesetz, sowie die Finanzierung der Feiertagsfeste regelte, ist eins zu eins in unsere heutige Gemeindewelt übernommen, völlig unsinnig.
- Zum anderen finden wir keine einheitliche biblische Praxis vom Geben des Zehnten. Manchmal wird von einer einmaligen Berechnung anhand des Gesamtbesitzes gesprochen (z.B. Abraham an Melchisedek: Hebr. 7, 1), manchmal von einem fortlaufenden Geben des Zehnten: 10% der Ernte und des Viehs (nicht des Geldes!) wurden an den Tempel, 10% an die Leviten und 10% an die Armen abgetreten, womit wir insgesamt bei 30% wären. Hinzu kam im AT noch die Erstlingsgabe (vgl. Ex. 23, 19; Num. 18, 12), welche Gott geweiht werden musste. Egal welche Variante wir wählen: Das Geben des Zehnten, wie es das AT versteht, unterscheidet sich beträchtlich davon, wie es heute in vielen Gemeinden angewandt wird.
- Das NT sagt kaum etwas über das Geben des Zehnten aus. Vielmehr geht es hier um die Herzenshaltung und die wahren Motive des Gebers. Jeder soll so viel geben, wie er kann und gerne gibt, so viel, wie er in seinem Herzen für sich beschlossen hat – manchmal mehr, manchmal weniger. Vgl. 2. Kor. 9, 6-7; 1. Kor 16, 1-2. Es geht darum, die Augen nicht vor der Not der anderen zu verschließen, sich nicht egoistisch zu bereichern, sich nicht vom „Geldmammon“ regieren zu lassen, ein barmherziges und gebendes Herz zu entwickeln. Jesus sagt dem reichen Jüngling: „Gib den Armen!“ (vgl. Mk 10). Großzügigkeit bricht also den Fluch der Gesetzlichen. Der Gesetzliche rechnet genau auf. Der in Jesus freie Mensch, hängt weder am Geld, noch am Buchstaben, sondern an Jesus selbst. Ebenso betont Jesus in Lk 12, dass die Geldfrage eine Frage des Vertrauens gegenüber Gott darstellt (vgl. Lk 12, 22fff). In der Art, wie wir mit Geld umgehen, zeigt sich unser Herz: „Den dort, wo dein Schatz ist, dort ist dein Herz.“ (Lk, 12, 34). Genau diesen Grundgedanken kann ich auch den AT-Bibelstellen entnehmen und damit dem Literalsinn der Bibel viel mehr gerecht werden, als mich engstirnig und mit erhobenen Zeigefinger an den Buchstaben zu klammern.
- Welche Herzenshaltung steckt dahinter, wenn ich genau 10% meines Einkommens berechne und den Rest für mich alleine beanspruche, um damit zu machen, was ich will? Lasse ich Gott dann bei den übrigen 90% nicht mitreden? Ist er letztendlich nicht der Geber von ALLEM (also 100%) was ich besitze, derjenige, der mir die Arbeit, die Gesundheit, die Kraft, die Gaben usw. geschenkt hat, damit ich Geld verdienen kann… ? Das NT radikalisiert den AT-Gedanken des ATs, indem es betont, dass mein gesamter Besitz, ja ich selbst, Gott gehöe! Gebe ich mit den 10% Gott ein kleines Stück von dem großen Kuchen ab, der ihm sowieso ganz gehört? Und welches Gottesbild steckt dahinter, wenn ich Gott betrügen (vgl. Maleachi 3, 8) oder verärgern würde, falls ich das nicht tue? Oder welche Herzenshaltung offenbart sich, wenn man gibt, nur um mehrfach zurück zu erhalten, wie es auf Grundlage von Mal 3, 10b; 2. Kor 9, 6 („Wer reichlich sät, der wird auch reichlich ernten“) so oft gelehrt wird? Gebe ich dann wirklich in Selbstlosigkeit?
- Ein Beispiel zur widersprüchlichen Herzenshaltung: Ich kenne scheinbar treue Christen, welche per Dauerauftrag vorbildhaft jeden Monat den Zehnten an die Gemeinde spenden. Beim Einkauf für die Familie wird aber kleinlichst jeder Cent umgedreht. Das Fleisch darf nur im Angebot gekauft werde. Das bettelnde Kind bekommt beim Bäcker nur eine Breze ohne Butter, weil die mit Butter zu viel kostet – Hauptsache das Gesetz wird erfüllt!
- Die Zehntenlehre ist ein absolut ungerechtes System!!! Ungerecht ist, dass aufgrund des Einkommens, ungeachtet der Lebensumstände, egal ob Firmeninhaber, Lohnempfänger, Student, Sozialhilfeempfänger, Single, Paar, Groß- oder Kleinfamilie, Anzahl der Kinder uw. zehn Prozent fällig werden. Die Frage ist zudem ob das Brutto oder Nettoeinkommen (!) gemeint ist. Beim Bruttoeinkommen würde doppelt „verzehntet“ werden, also nochmal bei der Rentenauszahlung. In der Schweiz ist der Nettolohn nicht dasselbe wie in Deutschland. All diese Aspekte müssten berücksichtigt werden. In der Praxis vieler Gemeinden werden sie allerdings komplett ausgeblendet. Doch nicht einmal der Staat pflegt ein dermaßen ungerechtes System, um Geld einzutreiben.
- Warum spricht man beim Zehnten nur vom Geben des Geldes? Im AT ging es um Korn und Vieh. Und noch wichtiger als Geld ist heute unser zeitliches Gut. Hier also die Fragen: Ist Zeit auch Geld? Wenn ich ehrenamtlich mein Herzblut und damit viele ungezählte Stunden in meine Gemeinde investiere, ist das nicht mehr wert als Münzen und Scheine? Wenn wir es schon bis aufs Zehntel genau nehmen: Müsste dies nicht streng genommen „verrechnet“ werden?
- Mit der Meinung, der Zehnte gehöre vollumfänglich in die „Kornscheune“, werden dazu christliche Missionen und Hilfswerke vom Geldfluss ausgeschlossen. Lokalgemeinden gehen davon aus, die legitimierten Empfänger des Zehnten zu sein und das „Reich Gottes“ auf Erden zu verkörpern. Doch gehören zum „Reich Gottes“ eigentlich auch meine Kinder? Ihre Ausbildung? Ihr Studium? Musikunterricht, Sportunterricht? Gehören dazu, die z.T. aus dem eigenen Geldbeutel bezahlten Studien meines Mannes, meine aus Nebenjobs bezahlten Studiengebühren für Ev. Religionspädagogik? Seminare? Seelsorgeausbildungen? Vor allem dann, aber nicht nur, wenn das Gesamtpaket irgendwann der Kirche zugutekommt? Sind Besuche von teuren christlichen Konferenzen Investition ins Reich Gottes oder Luxus? Was ist mit der Verköstigung des Hauskreises? Der Bewirtung von Freunden? Darf ich vor Gott die Entscheidung über alle diese Dinge selbst verantworten? Bin ich im christlichen Lebensalltag genauso mündig und frei, wie auch sonst im Leben?
- Es gibt eine amerikanische Studien,* die belegt, dass konservativer Glaube Sparverhalten negativ beeinflusst. Konservative geben den Zehnten ihres monatlichen Einkommens ab, scheuen regelrecht davor zurück, große Vermögen anzuhäufen und hängen manchmal lukrative Jobs an den Nagel, um vollzeitlich das Evangelium zu verbreiten. Nicht selten verlieren Familien dadurch ihre Existenzgrundlage, leben in Armut (worunter besonders die Kinder leiden), weil sich der geehrte Ruf ins „Reich Gottes“ vielleicht als Irrweg herausstellte.
Mein Fazit: Der Zehnte hat weder mit Bibeltreue noch Gehorsam gegenüber Gott zu tun! Er ist und bleibt Teil der jüdischen Geschichte. Leider lebt er auch heute noch weiter als strategische Methode (besser gesagt Irrlehre!) von freikirchlichen Gemeinden, um Menschen unter Manipulation und schlechten Gewissen das Geld abzuknöpfen. Damit werden dann gemeindliche Ziele (welche meinst alleine von der Leitung bestimmt werden) verwirklicht, Events mit Lichtershows organisiert, Hochglanzflyer gedruckt, Großräume geheizt, die neusten und teuersten Arbeitslaptops angeschafft, Umbauten vorgenommen und Pastorengehälter bezahlt, während Menschen auf der anderen Seite der Welt verhungern.
Literatur:
*Veronika Schmidt: Endlich gleich! Warum Gott schon immer mit Männern und Frauen rechnete.
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